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Theater

XIV--Theater - richtiges Theater

Ja, es gibt sie, die geborenen Schauspieler; das Talent fließt mit ihrem Blut durch den Körper und infiziert alle Organe. Auch ich hatte schon immer einen Hang zum darstellenden Spiel, nicht nur auf den Brettern, die für fanatische Mimen die Welt bedeuten, sondern auch im wirklichen Leben und insbesondere im Beruf. In der Schule wird man allerdings eher zum Sich-verstellen genötigt, in eine Rolle hineingezwängt, gegen die man sich vergebens wehrt.
Ob ich meine erste “echte” Rolle freiwillig übernommen habe, kann ich nicht mehr sagen. Es soll sich um ein Krippenspiel an Heiligabend im Rahmen des evangelischen Gottesdienstes gehandelt haben. Ich soll einen der drei heiligen Könige gespielt haben oder doch einen Hirten? Keine Ahnung, aber so muss es gewesen sein. Blass sind auch meine Erinnerungen an ein weihnachtliches Rollenspiel im Deutsch-Unterricht der 5. oder 6. Klasse. Aber das Gedicht, das ich, als Knecht Ruprecht verkleidet, aufsagte, kann ich noch:

Von drauß' vom Walde komm ich her;
Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr!
Allüberall auf den Tannenspitzen
Sah ich goldene Lichtlein sitzen;
Und droben aus dem Himmelstor

Sah mit großen Augen das Christkind hervor ...

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Jedenfalls fing es so an. In der 7. Klasse ließ uns unsere Deutsch-Lehrerin, Frau Reibstein, Wilhelm Tell in verteilten Rollen lesen. Meine war die des Reichsvogts Gessler. Die Gessler galten als stolze Leute, zierte doch ein Pfau mit gestellten Federn in Silber und Blau ihre Helme. Obwohl sie die Vogtei Grüningen nicht schlecht verwalteten, kam es zu Konflikten. Als einem Zürcher Bürger zur Strafe wegen Unterschlagung die Augen ausgestochen und die Zunge ausgerissen wurde, galt in den Augen der Schwyzer Untertanen Hermann Gessler als der Schuldige. So wurde aus einem Familiennamen eine Art Gattungsbegriff: Ein Gessler war fortan ein Bösewicht, ein Feind der Eidgenossen.

In Friedrich Schillers Drama wird der Hut des Reichsvogts auf eine Stange gesteckt. Ihn müssen alle grüßen als Zeichen der Untertänigkeit. In der dritten Szene des dritten Aufzugs kommt es zum dramatischern Höhepunkt: Tell weigert sich, mit der geforderten Geste die Habsburger Tyrannei anzuerkennen. Gessler lässt ihn verhaften. und zwingt ihn, vom Kopf des eigenen Kindes zur Rettung beider Leben und für seine Freilassung einen Apfel zu schießen. Tell entnimmt seinem Köcher zwei Pfeile und trifft den Apfel. Auf die Frage des Vogtes, wozu der andere Pfeil bestimmt gewesen sei, antwortet Tell, dieser sei für ihn bestimmt gewesen, hätte er seinen Sohn getroffen. Gessler lässt ihn verhaften, doch er kann fliehen. In der
hohlen Gasse, einem künstlich gebauten Hohlweg zwischen Küssnacht am Rigi und Immensee, lauert Tell (im vierten Aufzug) Gessler mit den Worten auf: "Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Es führt kein andrer Weg nach Küssnacht." Mit einem Pfeil aus seiner Armbrust
ermordet er ihn. Damit war ich als Untoter im fünften Aufzug nur noch Zuhörer.
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1789 beriefen sich die
jakobinischen Revolutionäre, bevor sie ihre Schreckensherrschaft errichteten, auf den Tell-Mythos, als sie den französischen König Ludwig XVI. enthaupteten. Die Sage vom Apfelschuss ist ein uralter europäischer Mythos, der in anderem Gewand auch in der persischen, dänischen, norwegischen und isländischen Heldensage vorkommt. In letzterer wird der Held Egil genannt, von dessen Sohn, König Orentel, Tell den Namen erhalten hat. Die hohle Gasse von 1307 existiert heute noch. Sie wurde mit Steinblöcken verengt und verkehrsberuhigt (siehe Foto).
Als Achtklässler durfte ich, zusammen mit einem Klassenkameraden, mit 'american accent' - ich hatte mich bei den in Kaiserslautern stationierten G.I.s infiziert - einen 'beggar' (Bettler) spielen. Auf dem Boden sitzend baten wir um eine kleine Spende [“shilling or pence over the fence”]. Doch von hinten kam nur 'plumpudding' über den Zaun geflogen. Wenn der Vorhang gefallen war, durften wir ihn sogar verzehren. Wer ihn wohl gebacken hat? Diese Aufführung fand anlässlich einer
Mittlere-Reife-Feier im brechend vollen Edenkobener Kino statt. Ein Jahr später, 9. Klasse, gleicher Anlass. Nach einem ungeahnten sozialen Aufstieg, verbunden mit einer 2000-jährigen Zeitreise, war ich, mir nichts, dir nichts, ein römischer Hausherr.
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Ich trug eine weiße Tunika, ein ärmelloses Untergewand, und eine goldglänzende Toga als Obergewand. Sie war nur Freigeborenen erlaubt . Meisten trugen aber Männer aus der Oberschicht die Toga als Zeichen einer offiziellen Mission: Magistrate und Senatoren legten sie an, wenn sie ihre Staatspflichten erfüllten. Als Pater familias stand ich meinem gesamten Haushalt vor, meiner Familie und den Sklaven. Über deren Leben und Eigentum hatte ich Verfügungsgewalt. Doch ich verkörperte nicht das Ideal des treusorgenden Vaters, der für das Wohlergehen der ihm Anvertrauten zuständig war, sondern einen Despoten mit der Rute in der Hand. Meine Lieblingsbeschäftigung war das Züchtigen von Slavinnen,. die sich aber ständig versteckten.
Leider gab es nichts zu essen; auch ein Glas Wein hätte ich nicht verachtet. Obwohl das Publikum, Eltern, Schüler und Ehemalige des Edenkobener Progymnasiums, wahrscheinlich kein Wort verstanden hat - deswegen konnte ich auch die Vokabeln beliebig verwechseln -, wurde diese Sandalen-Vorstellung mit großem Beifall bedacht. Viertelstündige 'standing ovations' mit Zugabe-Rufen erlebte ich dagegen ein Jahr später. Der halbe Ort drückte anschließend vor Begeisterung die Hand. Bei der Einweihung des Edenkobener Gemeindehauses, dem Kurpfalzsaal,
waren Elke Rühling und ich die Eltern eines Lausebengels.
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Über dessen Lausbubenstreiche beschwerten sich alle möglichen Leute bei uns. Das Zeugnis war eine Katastrophe: ich durfte es auf keinen Fall zu Gesicht kommen. Doch da hatten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Geschickt deckte ich das Versteckspiel auf, reagierte aber zu aller Überraschung - bis zu diesem Zeitpunkt spielte ich den strengen Vater -, mit Verständnis und gestand, dass meine Zeugnisse damals auch nicht besser waren. Da war die Überraschung perfekt.
Mir war jetzt sonnenklar: ich wollte unbedingt Schauspieler werden! Aus diesem Grund testete ich am Tag der feierlichen Überreichung des Zeugnisses der Mittleren Reife mein Improvisationstalent. Bei einem kleinem Umtrunk nach dem offiziellen Teil wurde ich von Mitschülern aufgefordert, einen Oberlehrer zu persiflieren. Das ließ ich mir zweimal sagen und überlegte: wen kannst du bloß verspotten, ohne dass er dir ewig böse ist?

Dann nahm ich mir unseren Lateinlehrer aufs Korn. Der war zwar irgendwo im Haus, hatte aber sicherlich schon zwei Promille im Blut und war daher das geeignetste Opfer, zumal er sehr leicht zu karikieren war: immer alkoholisiert. Unter einem kartoffelfarbenen Leinenwandschmuck mit der Parole: “non scholae sed vitae discimus” forderte ich die Klasse lallend auf: “Ruhe, ihr Teufelsbrut - sonst schreiben wir sofort eine Arbeit! Brigitte, zeig' mir deine Hausaufgabe.” Was ich schon immer
vor hatte: endlich konnte ich sie einmal unter Vortäuschung falscher Tatschen an mich drücken.
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Die Ex-Klasse grölte, die anwesenden Lehrer verstanden nur Bahnhof, bis eine andere Schülerin schrie: “Herr Böhler, darf ich auch mal an Sie ran.” Die anwesenden Lehrer lachten sich kaputt, die anwesenden Lehrerinnen waren - milde ausgedrückt - entsetzt. Eine Offenbarung? Ob es allerdings zur erneuten Strafversetzung gereicht hat, habe ich nie erfahren. Nun gab es kein Halten mehr für mich: Improvisationstheater - das war ja obergeil! Man brauchte keinen Text mehr zu lernen und auf keine Einsatzwörter mehr zu warten. Proben und Souffleusen im Souffleurkasten waren überflüssig. Kein besserwissender, nervtötender Regisseur. Gedacht - getan! Auf einer Skireise (siehe: Reisen) 1966 in der 11. Klasse des Neusprachlichen Gymnasiums Landau war ich nicht mehr zu bremsen. Unter der versteinerten Statue eines Mitschülers inszenierten wir ein schwules Oberstufenschülerpärchen auf einer Bank im Stadtpark. Das war an sich schon total lächerlich.
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Immerhin war homosexuelles Verhalten von Männern in der Öffentlichkeit strafbar.

Der § 175 des deutschen
Strafgesetzbuchs existierte von 1872 (Reichsstrafgesetzbuch) bis 1994. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ . Im gesamten Zeitraum wurden etwa 140.000 Schwule verurteilt. 1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragraphen durch Anhebung der Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis. In der DDR wurde ab Ende der 1950er Jahre Homosexualität unter Erwachsenen nicht mehr geahndet.

Doch die Statue fing an, Grimassen zu schneiden: zum Totlachen mit 't', auch wenn ich diese nicht sehen konnte und stattdessen todernst mit 'd' bleiben musste. Für den dritten Sketch aus der Reihe “Rolf Leonhard improvisiert” suchte ich mir die fünfte Abiturfete aus; private Abi-Partys waren wegen der Abwesenheit von Lehrern besonders beliebt. Eine farbige Abiturientin spielte spontan mit mir ein Liebesdrama. Doch die eigentliche Tragödie fand hinterher statt. Anstatt meiner ehemaligen Mitschülerin für ihre gelungene Improvisation zu gratulieren, schleppte ich sie ins nächste leere Zimmer und fiel über sie her. Das war ja auch der Grund, warum ich sie zum Mitspielen überredet hatte. Leider flog der ganze Schwiindel auf und ich war der Blamierte. Zum Glück waren alle Partygäste mehr oder weniger alkoholisiert und allerlei von mir gewohnt, so dass dieser Schabernackeine flüchtige Episode hätte bleiben können. Unglücklicherweise wurde das Gerücht, ich hätte ernste Absichten, so glaubwürdig in die Welt gesetzt, dass meine Spielpartnerin bald auch davon überzeugt war. Als ich nicht in ihrem Sinne reagierte, beichtete sie einer Exlehrerin, ich hätte sie sexuell genötigt. Das war so lächerlich, dass ich noch nicht einmal von der Polizei verhört wurde. Schade eigentlich: das hätte Stoff für einen weiteren Sketch hergegeben. Heutzutage wäre es mir schon eher an den Kragen gegangen; immerhin war ich mit meinen Fingern bereits unter ihrem Kleid.
Ja, ja, der Alkohol!
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Nach dem ganzen Bundeswehr-Theater war die Zeit reif für etwas Ernsthafteres. Und wie es das Schicksal so will, sprach mich Dieter Kümmel. seines Zeichens Schauspieler und Regisseur, in der Mensa an und fragte mich, ob ich nicht Lust auf Jugend- und Kindertheater hätte. Woher kannte er meine Ambitionen? Sah ich vielleicht so aus? Woher kannte er mich überhaupt? Er lud mich zu ener Probe ins Wallgrabentheater ein. Den Begriff 'casting' kannte damals noch niemand. Auf der Bühne probten ein paar “junge Leute” mit mit ihrem Text in der Hand. Mein innerer Nick Knatterton sagt mir (im Originalton): “Die proben noch nicht lange und kennen ihren Text noch nicht. Du kannst einsteigen.” Nach einem viertelstündigen Casting verkündete Kümmel laut und vernehmlich, sie hätten jetzt ein Mitglied mehr, das für eine Hauptrolle in Frage käme. Zwar wagte keiner, ihm zu widersprechen, doch sah ich einige verdutzte Gesichter, die mir sagten: “Wir dachten eigentlich, die Hauptrollen sind verteilt.” Aber das war nun einmal Kümmels Art: keinen zu sehr in Sicherheit wiegen oder wie olle Heraklit zu sagen pflegte: “panta rhei” - alles ist im Fluss. Bald hatte man sich auf meine Rolle geeinigt. Zu besetzen war nur noch der Fernsehmann. Dafür war ich prädestiniert: Rolle mit wenig Text aus dem komischen Fach. Mit der Zeit erfuhr ich dann, dass die Mugnog-Kinder
von Rainer Hachfeld mit Liedern von Volker Ludwig produziert werden sollte. Es handelt von Kindern, die mit List und Selbstbewusstsein erwachsene Engstirnigkeit und Herrschsucht überwinden.

Die Großstadtkinder Pam und Tom verleben ihre Ferien bei Tante und Onkel Mackepeter in der Kleinstadt. Weil es dort kein Spielzeug gibt, erfinden die Kinder den Mugnog, eine Holzkiste [''ein Mugnog ist ein Mugnog - und wir sind wir!''], in die sie menschliche Züge hineingeheimnissen. Für sie kann der Mugnog singen, lachen, beißen und gute Ratschläge geben. Mit dem Satz "Der Mugnog hat gesagt..." wehren sich Pam und Tom gegen unsinnige Ge- und Verbote...

Die Uraufführung hatte am Berliner Grips-Theater stattgefunden. In der Folgezeit wurde es sogar außerhalb Deutschlands aufgeführt. In Mosambik, zum Beispiel, wurden damit die autoritären Strukturen der traditionellen Gesellschaft angeprangert. Bei uns zogen sich die Proben hin. Immer wieder mussten Stolpersteine überwunden werden. Als besonders lästig empfand ich einen Alkoholiker, der für die Beleuchtung zuständig war. Er hatte Leute gefunden, die sich um ihn kümmerten. Immer wieder fanden endlose Gespräche mit ihm statt, doch in Wahrheit war er nur ein Klotz am Bein. Zwischenzeitlich versuchten wir mit Weihnachtstheater auf uns aufmerksam zu machen. Da ich als wenig ausgelasteter Student genug Zeit hatte, schlüpfte ich in die Rolle eines Marktschreiers.
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Freiburger Kinder-, Jugend- und Weihnachtstheater

Dann 1973 war es endlich so weit: Hauptprobe - Generalprobe - Premiere. Bei der Generalprobe muss der Erfnder der Pannen Dramaturg gewesen sein: so ziemlich jeder Auftritt wurde verpatzt, der Beleuchter hatte das Stück wahrscheinlich mit “Fürst der Finsternis” verwechselt, das Bühnenbild kippte um und die Kostüme waren auch schon fast fertig. In den folgenden Monaten waren die Vorstellungen schon Wochen im voraus ausverkauft. Die Eltern rannten dem Direktor des Wallgrabentheaters, Heinz Meier die Bude ein und verlangten eine Abendaufführung für Erwachsene. Was tut man nicht alles? Ja mei, wenn's schee macht!
Heinz Meier - hab' ich den Namen nicht schon mal gehört? Wer kennt ihn nicht, Deutschlands berühmtesten Lottogewinner, den Rentner, der mit 66 Jahren nach Island fährt, dort einen Gewinn von 500.000 DM macht und dessen Tochter mit dem Papst eine Herren-Boutique in Wuppertal eröffnet… Der legendäre Loriot-Sketch mit Heinz Meier in der Rolle des Erwin Lottomann, ääh Lindemann, gehört zu den Klassikern des Humors.

Eines regnerischen Tages verlangten Charly und Ellen eine Grundsatzdiskussion. Ihr Tenor war: Kindertheater ist Scheiße. Die Kinder und Jugendlichen werden für kurze Zeit aus ihrem gesellschaftlichen Kontext herausgerissen und einer Illusion ausgesetzt, die nichts mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hat. Wir kümmern uns in Zukunft um Jugendliche da, wo ihr Alltag stattfindet, ihr reales Leben. Zwei feindliche Lager entstanden aus der so überaus erfolgreichen Freiburger Kinder- und Jugendtheatergruppe. Zwar habe ich nie verstanden, warum man sich nicht friedlich aufgeteilt hat: jeder macht sein Ding. Ich hätte am liebsten beides gemacht, doch wegen der gegenseitigen Feindseligkeiten war das nicht möglich. So entschied ich mich für ... das Falsche. Ich schloss mich aus sozialpolitischen Überlegungen der Stadtteilgruppe an, obwohl mich mein Herz gefragt hat, warum ich mich nicht an der geplanten Inszenierung von “Doof bleibt doof” beteilige. War ich doof?

In dem neuen Stück heißt es:
Doof ist man nicht geboren,
doof wird man gemacht.
Und wer sagt: “doof bleibt doof”,
der hat nicht nachgedacht.
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Diese Einsicht kam für mich zu spät. Als sich die ersten Auflösungserscheinungen der Stadtteilgruppe bemerkbar machten, stand mein Entschluss, aus beruflichen nach Berlin auszuwandern, bereits fest. Ein Studienreferendariat irgendwo im Schwarzwald musste verhindert werden. Und in Berlin gab es auch Theatergruppen.
Tatsächlich habe ich bei der einen oder anderen geschnuppert. Eine Gruppe bestand aus getarnten Reichianern. Man praktizierte Charakteranalyse, Vegetotherapie und Orgonomie. Jeder Teilnehmer musste sein Innenleben nach außen stülpen, den ganzen Frust, der sich in ihm angesammelt hatte, auskotzen. Zum Kotzen, aber eine echte Herausforderung für einen Selbstdarsteller wie mich. Nach meiner Welturaufführung bin ich weiteren Treffen ferngeblieben. Mal in der Zeitung nach Rollenangeboten suchen. Wer sucht, der find't, heißt es. Und was lasen meine entzündeten Augen: für eine Hauptrolle bei einer Filmproduktion in Berlin wird ein Laiendarsteller gesucht. Ich rief an und bekam für den nächsten Tag einen Casting-Termin im Grunewald. Nach zwei weiteren Tagen hatte ich die Zusage. Auf mich müssen die wohl gewartet haben, denn eine Woche später begannen auch schon die Dreharbeiten. Die Produktionscrew bestand aus zwei Leuten. Ein ehemaligen Seemann war Produzent, Regisseur und Kameramann. Er hatte sich von seinem Gesparten eine teure Filmkamera gekauft. Sein Assistent war für alles andere, wie Bühnenbild, Maske und Filmmusik zuständig, hatte aber überhaupt nichts zu sagen. Das galt auch für mich. Bloß keine Verbesserungsvorschläge, sagte er sich,, die könnten den ganzen Ablauf durcheinander bringen. An verschiedenen Drehorten wurde mir jeweils erklärt, was ich zu tun hatte. Ich war ein junger, depressiver Stadtneurotiker, saß am oberen Kurfürstendamm in einem Café, um gedankenverloren eine

"Hare Rama, Hare Rama, Rama Rama, Hare Hare, Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna Krishna, Hare Hare"

singende Margarine-Bewegung bzw. Krishna-Gruppe an mir vorbeiziehen zu lassen, baute einen blutigen nächtlichen Autounfall mit Trinkschokolade (wirkte echt echt) und sah so lange in einen Badezimmerspiegel, bis ich lebensmüde wurde und mich umbringen wollte. Doch als ich das Fester öffnete, um hinauszuspringen, hieß es: “Aus, vorbei, Dreharbeiten beendet.” Der Spiegel bestand übrigens aus einem rechteckigen Loch in der Wand, in dem eine Kameera angebracht war, so dass ich genau in die Linse starren musste. Das machte den Bock aber auch nicht mehr fett. Zu dumm war die Idee des Seemanns, meine Frau aus dem Big Eden herauszufischen. Dass es unbedingt eine Blondine sein musste, konnte ich ja noch nachvollziehen. Warum musste es aber unbedingt ein strohdummes Blondchen sein, das von Tuten und Blasen, geschweige denn von Schauspielerei nicht die geringste Ahnung hatte? Genauso gut hätte ich mit einer aufblasbaren Beate-Uhse-Puppe spielen können. Trotz meiner mimischen Glanzleistung und des großartigen, 12-minütigen “April” von Deep Purple, wollte kein Sender den Schwarzweißkurzstummfilm “Aller Tage Abend” ausstrahlen. Der Seemann hatte jahrelang umsonst auf hoher See geschuftet und mir blieb eine gewinnabhängige Prämie versagt. Heute, 25 Jahre später, hätte er beim Offenen Kanal - Privatsender kannte man damals noch nicht - größere Chancen gehabt, aber auch nicht viel mehr verdient.
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In den folgenden Jahren hatte ich nur noch eine einzige Rolle in einer Serie. Sie hieß “Einmal Lehrer - immer Lehrer” und spielte an verschiedenen Berliner Schulen. An einem Gymnasium, der Lilienthal-Oberschule, schaffte es die Leiterin des Oberstufenkurses "Darstellendes Spiel”, Ute Ledwon, in wochenlanger Überzeugungsarbeit, mich doch noch einmal auf die Theaterbühne zu zerren. Sie machte mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Im Zweiakter “Die Physiker” von Friedrich Dürrenmatt wurde für die Rolle des Oberwärters Uwe Sievers noch ein Superschwergewicht benötigt.

Im Zentrum der grotesken Komödie stehen drei Physiker, die sich als Geisteskranke ausgeben. Zwei von ihnen behaupten Albert Einstein bzw. Sir Isaac Newton zu sein. Johann Wilhelm Möbius, der Dritte im Bunde, hat die revolutionäre Weltformel entdeckt, die in den falschen Händen zur Vernichtung der gesamten Welt führen könnte. Mi der Behauptung, ihm erscheine der König Salomo versucht er sich selbst unglaubwürdig zu machen, um so den Missbrauch seiner Entdeckung zu verhindern. Newton und Einstein hingegen sind Spione, die an Möbius' Erkenntnisse herankommen und sein Genie für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Jeder der drei Physiker ermordet eine Krankenschwester, um sein jeweiliges Geheimnis zu wahren, das durch deren Bemühen zeitweise bedroht erscheint. Als deshalb die Polizei eintrifft, vernichtet Möbius seine Formeln. Die einzig wirklich Irre, die Besitzerin und Chefärztin des Irrenhauses hat im Auftrag König Salomos jedoch sämtliche Aufzeichnungen bereits zuvor kopiert und will nun die Weltherrschaft an sich reissen. Sie hat den Physikern die Krankenschwestern auf den Hals gehetzt, damit deren öffentliche Glaubwürdigkeit unterminiert und das Vorhaben der Ärztin gesichert ist. Der Schweizer Dramatiker wollte 1961 auf Gefahren hinweisen, die die Wissenschaft in sich birgt, wobei die verschiedenen Insassen und das Personal die damaligen Machtblöcke des Kalten Krieges symbolisieren.
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Hätte ich bloß nie “Ja” gesagt. Bald merkte ich, dass den KursteilnehmerInnen ein mitwirkender Lehrer nicht ganz geheuer war. Sie waren nicht in der Lage über ihren eigenen Schatten zu springen und haben die auf dem Mist ihre Kursleiterin gewachsene Idee und damit auch mich innerlich abgelehnt. Bei den ersten drei Aufführungen ging noch alles gut, wenngleich mir auffliel, dass die Schüler sich immer weniger an ihren Text gehalten haben. Da hatte ich eine andere Einstellung: entweder man macht ernsthaftes Theater oder Klamauk. Bei der vierten Aufführung in der brechend vollen Aula wollten die Schüler beides miteinander verbinden. Ich hatte mit allem nur Denkbaren gerechnet, aber nicht damit, im zweiten Akt plötzlich mit “Yeti” angesprochen zu werden. Hätte ich geahnt, was da auf mich zukommt, wäre ich an diesem Abend gleich als Schneemensch mit Fell aufgetreten. Aber mitten in der Vorstellung das Genre wechseln von der Komödie zum Slapstick - das gibt's nur bei Dilettanten., also an Schulen. Widerwillig ließ ich mich, nachdem der letzte Vorhang gefallen war, zur Schlussverbeugung auf die Bühne zerren und habe mir geschworen: nie wieder irgendein Projekt mit Schülern. Daran habe ich mich bis heute gehalten. Dann doch lieber den einen oder anderen Gelegenheitsjob als Komparse, wie bei der “Märzmelodie” im Schöneberger Leuchtturm mit Alex Neldel oder im Tiergarten für Slapsticks im Rahmen der Klamaukserie “Böse Mädchen” oder als “Passer by” bei den Dreharbeiten zu Speed Racer in den Babelsberger Filmstudios. Ende der Durchsage. Vorhang zu - Licht aus! Aber nicht nur für Fußballer, auch für Theaterschaffende gilt die goldene Regel:
Nach der Vorstellung ist vor der Vorstellung.”

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
   
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